Herr Pollmer, Sie haben vorhin beim Essen den Salat verschmäht.
Warum?
Ich bin kein Freund von, nun ja, Laubwerk. Ein Kopfsalat entspricht
ernährungsphysiologisch etwa einem Papiertaschentuch und einem Glas
Wasser. Ich esse lieber etwas Nahrhaftes.
Warum essen Frauen mehr Salat als Männer?
Eine spekulative Antwort: Man hat im Salat opiumähnliche Substanzen
entdeckt – also Stoffe, die antörnen. Salatessen wäre demnach für Frauen
eine unverdächtige Methode, die Stimmung aufzuhellen. Männer haben dafür
ja das Bier. Hopfen ist botanisch der nächste Verwandte von Haschisch.
Sie sind eine imposante Erscheinung. Wie viele Diäten haben Sie
schon hinter sich?
Gar keine. In der Tat hat sich mein Gewicht in den letzten zehn Jahren
deutlich verändert – früher war ich eher der sportliche Typ. Die Menschen
ändern sich halt. Aber ich bin sowieso je länger, je mehr der Überzeugung,
dass Gewichtsfragen herzlich wenig mit dem Essen zu tun haben.
Wie bitte?
Es gibt einen einfachen Beleg dafür: Wenn Essen dafür verantwortlich wäre,
dass man dicker wird, dann müssten die ernährungstechnischen Ratschläge
der letzten fünfzig Jahre, die von Millionen Menschen ausprobiert worden sind,
doch wirksam gewesen sein. Aber wir sehen genau das Gegenteil. Es hat nichts
funktioniert.
Vielleicht, weil sich die Menschen zu wenig strikt an die Ratschläge
gehalten haben?
Gerade umgekehrt: Die Tipps der Ernährungsberater haben zu einem grossen
Teil dazu beigetragen, dass beispielsweise in den USA die Zahl der Fettleibigen
stark zugenommen hat.
Eine ziemlich kühne Behauptung.
Es mag zugegebenermassen paradox klingen. Aber in den USA macht sich
inzwischen selbst bei den offiziellen Stellen die Einsicht breit, dass die Zunahme
von Fettleibigkeit eine Folge ihrer jahrzehntelangen massiven
Low-Fat-Kampagne war.
Weniger Fett macht fetter?
Darum geht es nicht. Es geht darum, dass jeglicher Versuch, den Bauch mit
dem Kopf zu steuern, von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Meist führt
das sogar noch zu grösserer Gewichtszunahme als gedankenloses Futtern.
Man kann es nicht deutlich genug sagen: Diäten machen dick. Wir erfahren es
immer wieder, und immer wieder glauben es die Leute nicht und meinen, wenn
sie eine Diät machen, werde es funktionieren. Viele Studien belegen: Wenn eine Gruppe von Leuten ihre Nahrungszufuhr begrenzt und ganz bewusst gegen den eigenen Appetit kämpft, dann sind diese
Leute im Durchschnitt ein Jahr später dicker, als wenn sie die Diät nicht
gemacht hätten.
Wieso machen Diäten dick?
Eine Diät bedeutet für den Körper eine Hungersnot. Er fährt den
Energieverbrauch runter und nutzt jedes bisschen Nahrung bis aufs Letzte aus.
Deshalb nimmt man zwar zu Beginn einer Diät ab, aber nach einer Woche hat
der Körper den Trick raus und steuert dagegen. Sobald der enttäuschte Kunde
wieder normal isst, kehrt er dank der optimierten Futterverwertung rasch zum
Ausgangsgewicht zurück. Ab der zweiten oder dritten Diät kommt es dann zum
berühmten Jo-Jo-Effekt: Für den Körper handelt es sich um ein Zeitalter mit
massiven Hungersnöten – darum legt er sich nach jeder Diät ein zusätzliches
Reservepolster zu, der Gewichtsverlust wird überkompensiert. Gegen diese
Überlebensstrategie des Körpers sind wir machtlos.
Aber damit können Sie doch nicht erklären, wieso in der Schweiz
mittlerweile jedes fünfte Kind übergewichtig ist.
Das sind doch bloss Normen! Diese Zahlen können Sie beliebig manipulieren,
indem Sie die Definition ändern. Früher hat man die Körpergrösse in
Zentimetern minus hundert gerechnet, um das Normalgewicht zu bestimmen.
Später musste man davon noch zehn Prozent abziehen, dann zwanzig.
Inzwischen redet alles vom Body-Mass-Index. Aber ob ein Kind wirklich
übergewichtig ist, kann ich doch nicht durch Multiplizieren von ein paar Zahlen
herausfinden.
Ist es nicht offensichtlich, dass unsere Kinder immer dicker werden?
Kürzlich habe ich in einem vielleicht zwanzig Jahre alten Schweizer Kinderbuch
geblättert. Da war ein Foto eines Mädchens drin, und ich dachte: So ein dickes
Kind habe ich schon lange nicht mehr gesehen in einem Buch. Damals galt das
noch als normal und wünschenswert. Vor noch nicht allzu langer Zeit hat man
die dünnen Kinder – die heute als ideal gelten – ja noch zu Mastkuren aufs Land
geschickt. Aber heute dürfte man dieses Kind aus dem Buch nirgends mehr
abbilden, weil es bereits als zu dick gilt. Auch die Leute, die wir im Fernsehen
zu sehen bekommen, werden immer dünner. Diesen Sommer habe ich in einer
Zeitung ein Bild aus einem Schwimmbad gesehen, wo man allen festeren
Kindern einen Balken über die Augen gemacht hatte. Wie im Verbrecheralbum.
Werden die Kinder nun dicker oder nicht?
In den letzten Jahren hat sich das Durchschnittsgewicht zumindest der
deutschen Kinder nicht geändert. Auch die Anteile der dünnen,
durchschnittlichen und dicken Kindern sind im Grossen und Ganzen seit
vierzig Jahren gleich. Allerdings werden seit 1997 die Dicken immer dicker –
darum «sieht» man immer mehr Dicke. Interessanterweise fällt das genau
zusammen mit dem Beginn der Abspeck-Kampagnen für Kinder. Da haben
Sie’s wieder: Diäten machen dick.
Wie würden denn Sie gegen die Fettleibigkeit vorgehen?
Wissen Sie, natürlich gibt es dicke Kinder. Aber die erste Reaktion kann doch
nicht sein: Die müssen wir jetzt schlank bekommen. Es gibt auch grosse
Kinder – da ist doch die Reaktion auch nicht: Die müssen wir jetzt kürzer
machen. Auch wenn es eine Reihe von Krankheiten gibt, die bei langen
Menschen häufiger auftreten als bei kurzen. Sondern man muss zuerst fragen,
warum das so ist.
Ja, warum?
Menschen gibt es in allen Grössen, Farben und Formen. Manche sind von Natur
aus dürr – andere sind halt ein bisschen pummelig, aber biologisch komplett
gesund. Wenn Sie so ein Kind auf sogenanntes Normalgewicht trimmen, dann
ist das übelste Form von Misshandlung.
Aber es gibt auch solche, die entgegen ihrer Veranlagung dick sind.
Ja. Bei diesen finden Sie in vielen Fällen familiäre Probleme. Da kann es schon
sein, dass das Kind aus Frust viel isst, aber das primäre Problem ist der Frust
und nicht das Essen. Ich kann doch einem solchen Kind nicht einen Diätplan in
die Hand drücken! Es braucht eine gehörige Portion Naivität, zu glauben, man
könne einem Heranwachsenden das Essen streichen und der werde dann
schlank. Viel wahrscheinlicher ist, dass er dick bleibt, aber nicht mehr gescheit
weiterwächst. Das ist übrigens nur eine von vielen möglichen Nebenwirkungen
von Diäten.
Nennen Sie weitere!
Bei Erwachsenen zum Beispiel Gallenstein, Diabetes, Osteoporose und
Herzinfarkt. Eigentlich müsste man Frauenzeitschriften im Frühling stets mit
dem Hinweis «Abnehmen gefährdet Ihre Gesundheit» versehen.
Moment – wir hatten gemeint, gerade Fettleibige hätten ein erhöhtes
Herzrisiko?
Das stimmt. Aber es steigt noch mehr, wenn sie abnehmen. Ein abgehungerter
Dicker ist eben etwas anderes als ein von Natur aus Schlanker – ein
abgemagerter Mops rennt ja auch nicht plötzlich wie ein Windhund. Wer Diäten
macht, hat ein erhöhtes Herzinfarktrisiko und eine geringere Lebenserwartung.
Und zwar unabhängig davon, ob er das tiefere Gewicht hält oder nicht. Die
schlimmste Nebenwirkung von Diätkampagnen ist allerdings die Essstörung. Bei
Jugendlichen erhöht eine strenge Diät das Risiko, eine Essstörung zu
entwickeln, um das Achtzehnfache.
Sie sprechen von Magersucht?
Ich spreche von Magersucht und Ess-Brech-Sucht. Damit Sie eine Idee von
der Grössenordnung haben: In deutschen Grossstädten zeigen inzwischen
15 Prozent der pubertierenden Mädchen Symptome einer Essstörung – also
etwa exzessive Hungerkuren, Erbrechen oder Einnahme von
Entwässerungsmitteln. Das ist ungeheuerlich, weil viele von ihnen schwere
körperliche und seelische Schäden davontragen und einige Fälle auch tödlich
enden werden. Und die Zahlen steigen. Mit der «five a day»-Kampagne werden
wir diese Rate locker auf 25 oder 30 Prozent hochtreiben. Die Mädchen können
Sie ja relativ einfach verrückt machen: indem Sie ihnen sagen, wenn sie weiter
so essen wie bisher, dann sähen sie nachher aus wie Mama.
Was ist das für eine Kampagne?
Fünfmal am Tag Obst und Gemüse. Das wird jetzt in Deutschland schon in den
Kindergärten propagiert. Bis dato waren die jüngsten Essgestörten in den
Kliniken zehn Jahre alt. Ein halbes Jahr nach Beginn der Kampagne haben wir
nun bereits Vierjährige mit Essstörungen.
Den Zusammenhang zwischen Ernährungskampagne und Magersucht
müssen Sie uns noch genauer erklären.
Nun, die erste Folge der Kampagnen ist das Rauchen, das bei jungen Mädchen
stark zugenommen hat. Mit Zigaretten ist es relativ einfach, das Gewicht zu
kontrollieren. Essstörungen sind schon viel gravierender: Wenn Sie den Körper
genug oft und lange Stress aussetzen, zum Beispiel durch Hungern, gerät der
Hormonhaushalt durcheinander – es werden körpereigene Drogen
ausgeschüttet. Der Betroffene gerät dann in eine Euphorie hinein, und die will
er natürlich immer wieder haben. Darum muss er immer weiter hungern oder
kotzen. Und der Königsweg zur Erzeugung von Drogen im Körper ist genau
die Kombination von Diät mit Ausdauersport, wie sie stets propagiert wird. Mit
den heutigen Massnahmen treiben wir die Kinder also geradewegs in die
Essstörungen hinein.
Wenn sie so schädlich sind – warum werden überhaupt
Ernährungskampagnen gemacht?
Wissen Sie, die Ernährung ist heute zur Religion geworden. Früher lauerte
die Sünde hinter der Schlafzimmertür – heute lauert sie hinter der
Kühlschranktür. Der Glaube an das Heil durch angeblich gesunde Ernährung
ist zum identitätsstiftenden Bekenntnis geworden. Wenn Sie daran zweifeln,
rufen Sie genauso ungläubiges Staunen hervor wie noch vor zwei Generationen
durch Zweifel an der Jungfrauengeburt. Aber letztlich stecken dahinter natürlich
die Interessen einer Gruppe von Menschen, die durch ihr Geheimwissen
Macht ausübt. Früher war das die Kirche, nun sind es die Ernährungspäpste.
Ein harter Vorwurf. Immerhin basieren die Ernährungsempfehlungen
auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Falsch. Wenn ein Experte behaupten würde, er habe herausgefunden, dass die
Schuhgrösse 27 die gesündeste sei, und darum müssten jetzt alle
Schuhgrösse 27 tragen, würde man ihn für verrückt halten. Aber wenn ein
Experte irgendeine Ernährungsweise für gesund erklärt, dann glauben alle, sie
müssten das jetzt nachmachen. Dabei sind die Unterschiede in der
Verdauungsphysiologie noch viel grösser als bei der Fusslänge. Jeder verträgt
gewisse Nahrungsmittel besser oder schlechter, das ist sehr individuell. Wenn
also eine allgemein gültige Ernährung propagiert wird, handelt es sich a priori
um Scharlatanerie – egal, wie viele Professoren Mittäter sind.
Uns fällt auch auf, dass die Ratschläge alle paar Jahre ändern.
Genau. Offenbar wandelt sich der Verdauungstrakt des Menschen ständig :
Vor zwanzig Jahren sollte er viel Fleisch und wenig Gemüse essen – er hatte
also den Verdauungstrakt eines Marders. Dann kam die Phase, wo er den
Magen eines Huhnes hatte, um all die empfohlenen Körnchen verdauen zu
können. Heute liegt im Verzehr von viel rohem Obst und Gemüse das Heil,
und der Mensch hat demnach den Verdauungstrakt eines Schafes bekommen.
Der renommierte deutsche Professor Hans Konrad Biesalski sagte über die
Ernährungswissenschaften: «Die meisten Aussagen können lediglich als
vorwissenschaftliche Erkenntnis angesehen wer-den.» -Willkommen im
Mittelalter!
Gibt es denn überhaupt keinen Ernährungsratschlag, an den wir
uns halten können?
Doch: Essen Sie nichts, was Ihnen nicht bekommt, und sei es noch so gesund!
Wie findet der Mensch heraus, was für ihn gut ist?
Indem er nicht darüber nachdenkt. Der Körper regelt das für ihn.
Aber vielleicht kann ich meine Ernährung verbessern, indem ich
darüber nachdenke.
Nein, mit dem Nachdenken beginnen erst die Probleme. Beginnen Sie über
Ihren Gang nachzudenken, werden Sie garantiert stolpern. Der Versuch,
seinem Körper Dinge vorzuschreiben, die dieser autonom erledigt, geht
meistens schief. Ein Beispiel: Viele Menschen glauben, sie brauchten bloss den
Zucker durch Süssstoff zu ersetzen und schon hätten sie die Kalorienzufuhr
reduziert. Der Verdauungstrakt, dieses doofe Abflussrohr, der merkt das ja eh
nicht. Aber der Verdauungstrakt ist kein Abflussrohr – der lässt sich nicht so
leicht übertölpeln.
Haben Süssstoffe etwa nicht weniger Kalorien als Zucker?
Doch. Aber die Dinge sind eben nicht so einfach. Sobald die Zunge etwas
Süsses registriert, hat der Körper die Erwartung, dass er jetzt Zucker bekommt. Darum schüttet er innerhalb von neunzig Sekunden etwas Insulin aus. Wenn dann aber kein Zucker kommt, weil’s bloss
Süssstoff war, macht sich das Insulin über den Restzucker her, den es im Blut
noch vorfindet. Dann sinkt der Blutzuckerspiegel, und Sie bekommen einen
Hunger, der viel stärker ist, als wenn Sie statt des Light-Produkts gar nichts
gegessen hätten. Im Endeffekt nehmen Sie mehr Kalorien zu sich. Das ist auch
der Grund, wieso genau die gleichen Süssstoffe, die beim Menschen als
Schlankmacher angepriesen werden, seit über zehn Jahren als Masthilfsmittel
für Schweine zugelassen sind. Können Sie in der Futtermittelverordnung der
EU nachlesen.
Kann man sich auf seinen Appetit verlassen?
Natürlich. Jedes Lebewesen verlässt sich darauf, und der Mensch hat sich
jahrtausendelang darauf verlassen. Erst seit wir im Überfluss leben, glauben
wir, die Ernährung steuern zu müssen.
Mittlerweile sollen wir drei Liter Wasser am Tag trinken. Wir haben
das Gefühl, dabei zu ersaufen.
Das ist ein schönes Beispiel, wie man mit gut gemeinten Ratschlägen einen
Menschen umbringen kann. Diese Empfehlung hat nämlich schon etliche
Todesfälle verursacht – vor allem bei Kleinkindern.
Wie kann man an Wasser sterben?
Der Körper braucht nicht nur Flüssigkeit, er braucht auch Natrium, also Salz,
damit er das Wasser wieder ausscheiden kann. Wenn Sie nun sehr viel trinken
und kaum Salz essen, können Sie kaum noch pinkeln. Das bisschen Natrium,
was der Körper noch hat, verlagert er nun in die Zellen. Fatalerweise
interpretieren das die Volumenrezeptoren in den Zellen als Wassermangel,
und Sie bekommen Durst und trinken noch mehr. In Wahrheit haben Sie aber
einen Wasserüberschuss – eine Wasservergiftung. In der Folge kann es zu
tödlichen Gehirn- und Lungenödemen kommen.
Warum trifft es vor allem Kleinkinder?
Weil die den ganzen Tag an ihren Schoppen nuckeln. So lautet ja die
Empfehlung: Möglichst viel trinken, möglichst natriumarme Fruchtsäfte.
Manche Kinder ernähren sich fast nur von Saft. Dadurch haben sie erstens zu
viel Wasser und zweitens zu wenig Salz, weil man Salz fast nur über feste
Nahrung zu sich nehmen kann. Manche glauben gar, das sei gesund, weil
Salz soll ja gefährlich sein.
Wir ahnen schon, dass dem nicht so ist.
Die ganze Geschichte hat sich vor wenigen Jahren als Ente entpuppt. Selbst die
oberste Gesundheitsbehörde der USA gestand ein, dass sie die Warnung vor
Salz ohne wissenschaftliche Basis verbreitet hatte.
Etwas verwirrt sind wir auch beim Alkohol. Ist er nun gut oder nicht?
Es hat sich gezeigt, dass der regelmässige moderate Konsum jeglicher Form
von Alkohol im Durchschnitt mit einer höheren Lebenserwartung verbunden ist.
Dann würden Sie also Alkoholkonsum empfehlen?
Ich mache generell keine Empfehlungen. Wenn Weintrinker eine grössere
Lebenserwartung haben, heisst das noch lange nicht, dass auch Abstinenzler
länger lebten, wenn man sie zum Alkohol zwänge.
Wie kommt die positive Wirkung von Alkohol zustande?
Bekanntlich arbeitet ja die Naturheilmedizin mit pflanzlichen Heilmitteln. Diese
werden normalerweise als alkoholischer Extrakt gegeben, weil die Wirkstoffe
in Wasser nicht löslich sind. Meine Vermutung ist nun, dass Alkohol beim Essen
oder danach wichtige Stoffe verfügbar macht – ja dass gewisse Spurenstoffe
in der Nahrung dem Körper überhaupt erst dank des Alkohols zugänglich sind.
Darum auch die Betonung des regelmässigen und moderaten Konsums. Sich
ab und zu betrinken ist hingegen kontraproduktiv.
Warum isst der Mensch die Dinge, die er isst?
Intuitiv würde man wohl antworten: weil sie ihm schmecken. Nun gibt es aber
zwei Beobachtungen, die dem widersprechen. Zum einen verschwinden neun
von zehn neuen Produkten innerhalb eines Jahres wieder vom Markt, obwohl
man sie nach allen Regeln der Kunst geschmacklich optimiert und getestet hat.
Zum andern gibt es viele Nahrungsmittel, Bier zum Beispiel oder Kaffee, die
beim ersten Mal scheusslich schmecken, beim zehnten Mal bestenfalls neutral,
ab dem hundertsten Mal aber unverzichtbar sind, obwohl der Geschmack,
objektiv gesehen, immer noch derselbe ist.
Wollen Sie damit behaupten, dass zwischen dem, was uns schmeckt,
und dem, was wir essen, gar kein Zusammenhang besteht?
Genau. Wenn man Ratten die Geschmacks- und Geruchsnerven chirurgisch
durchtrennt, fressen sie immer noch genau das, was sie physiologisch brauchen. Geruch und Geschmack sind bloss Indikatoren, die dem Bauch anzeigen, welche Stoffe er als Nächstes zu
verdauen hat. Aber die Steuerung darüber, was und wie viel wir zu uns
nehmen, geschieht in einem Organ tief in unserem Körper drinnen, im
sogenannten Darmhirn.
Darmhirn? Sollte unser Bauch tatsächlich denken können?
Man darf sich das nicht wie ein Gehirn vorstellen, eher wie ein
Nervenzellengeflecht wie das Rückenmark. Nicht wahr, beim Essen tanken
wir keineswegs bloss Energie – sondern wir beziehen aus der Nahrung die
Stoffe für die Regeneration des Körpers. Denn der Körper ist in ständigem
Umbau begriffen, alle paar Jahre erneuern sich sämtliche Zellen. Dieser
komplexe Prozess muss genau gesteuert werden, und das geschieht im
Darmhirn. Übrigens ist das Darmhirn entwicklungsgeschichtlich älter als das
Kopfhirn – deshalb setzt es sich bei Appetitfragen auch meistens durch.
Evolutionsbiologisch gesehen, ist das Gehirn eine Ausstülpung des Darmes.
Warum hat unser Darmhirn so selten Lust auf Vollkornbrot und
Frischkornbrei?
Weil diese Dinge bei übermässigem Verzehr zu nachhaltigen Schäden führen
können.
Wie das?
Das hängt damit zusammen, dass kein Lebewesen gern gefressen wird. Darum
wehren sich Pflanzen mit Dornen oder Spelzen oder Giften vor Frassfeinden.
Damit Getreide für uns bekömmlich ist, müssen die darin enthaltenen
Abwehrstoffe entfernt werden – das ist der Sinn des jahrtausendealten
Müller- und Bäckerhandwerks. Die Verarbeitungsmethoden sind bei allen
Getreidesorten seit Menschengedenken dieselben, und zwar in allen Kulturen:
Hafer wird entspelzt und dann als Brei oder Flocke genutzt. Aus Weizen macht
man Weissmehl und fermentiert und verbäckt es. Roggen wird gemahlen,
versäuert und dann gebacken. Gerste wird seit 5000 Jahren zu Bier verbraut.
Diese Techniken haben einen Sinn. Wenn der Frischkornbrei die ideale
Nahrungsform wäre, hätte die Menschheit seit Jahrtausenden ungeheure
Ressourcen verschwendet.
Warum sollten diese Techniken nicht auch mit Vollkornmehl
funktionieren?
Beim Roggen geht es ja, da bekommen Sie mit dem herkömmlichen Sauerteig
die meisten unerwünschten Abwehrstoffe weg. Allerdings haben wir heute
einen Trend zum weniger bekömmlichen Kunstsauer, weil vielen Bäckern ihr
traditionelles Handwerk zu umständlich ist.
Und beim Weizen?
Beim Weizen funktioniert die Versäuerungstechnik nicht so gut – darum muss
man die Kleie entfernen, denn da sitzen die unerwünschten Stoffe drin. Zum
Beispiel das Weizenkeimlektin, das ungehindert durch die Darmwand
hindurchgeht und etwa die Bauchspeicheldrüse angreift. Weizenkeimlektin
gehört zu den schädlichsten Stoffen, die in der Nahrung drin sind. Die
Menschheit hat es immer entfernt, indem sie den Weizen zu Weissmehl
verarbeitete. Bis die Ernährungsfachleute gekommen sind und behauptet
haben, Vollkorn sei gesünder.
Immerhin ist Vollkorn nahrhafter als Weissbrot.
Auch das ist eine Legende. Weissbrot vermögen wir vollständig in Energie
umzusetzen. Im Vollkornbrot aber sind Stoffe drin, die dafür sorgen, dass Sie
nur etwa die Hälfte der Stärke verdauen können. Die andere Hälfte gelangt als
unverdauter Brei in den Dickdarm, wo sich Mikroben mit Begeisterung darüber
hermachen. Sie bauen nun die Stärke zu Traubenzucker ab und verarbeiten
diesen weiter zu allerlei reizvollen Abgasen und Fuselalkoholen. Auf diese Weise hat der Vollwertköstler eine hübsche Zuckerfabrik in seinem Darm, die bei dauerhaftem Vollkornabusus zu
gesundheitlichen Schäden führt wie etwa Darmverpilzungen.
Warum verarbeitet der Mensch als einziges Lebewesen seine
Nahrung vor dem Verzehr?
Weil er dadurch Zeit und Energie gewinnt – ein entscheidender evolutionärer
Vorteil. Menschenaffen zum Beispiel verbringen den grössten Teil des Tages
damit, Nahrung zu suchen, zu essen und zu verdauen. Für den Affen ist das
Verdauen eine derart anstrengende und energieintensive Arbeit, dass er
daneben keiner anderen Tätigkeit nachgehen kann. Wir hingegen können
arbeiten und verdauen nebenher. Dank der Lebensmittelverarbeitung ist es
uns gelungen, Verdaulichkeit und Nährwert unserer Nahrung zu erhöhen –
deshalb ist unser Verdauungstrakt einfacher gebaut als bei Affen. Und mit der
schnell verfügbaren Energie treiben wir unsere riesigen Gehirne an. Wenn die
Ernährungsfachleute uns die Rückkehr zu Körnern und Rohkost empfehlen,
dann sollen sie bitte mit gutem Beispiel vorangehen und ihr Grosshirn gegen
zwei Meter Dickdarm eintauschen.
Die Nahrungsmittelverarbeitung als Motor der Evolution?
Genau. Das sehen Sie auch in der Kultur: Die beeindruckendsten kulturellen
Leistungen sind in Gegenden erbracht worden, wo leicht verdauliche Nahrung
zur Verfügung stand und die Lebensmittelverarbeitung weit fortgeschritten war.
Die Küche ist für die Evolution des Menschen genauso wichtig wie etwa die
Sprache. Aber weil die Küchenarbeit von Frauen gemacht wurde, galt sie als
minderwertig. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass die Frauen zurück an
den Herd gehören. Aber wir müssen dafür sorgen, dass unser
küchentechnisches Know-how nicht verloren geht, dass diese uralten
Kulturtechniken weitergegeben werden.
Wo soll das geschehen, wenn nicht am heimischen Herd?
In Fabriken.
Sie scherzen. Es gibt doch nichts Grauenvolleres als Fabrik-Food.
Das Problem ist, dass viele Hersteller ständig an den Rezepturen herumdrehen,
um sie billiger hinzubekommen. Am Schluss sieht das Produkt gleich aus und
schmeckt gleich wie ein herkömmliches, aber die Bekömmlichkeit sinkt.
Eben.
Das muss aber nicht so sein. Genau mit dieser Frage sollte sich die
Lebensmittelwissenschaft auseinander setzen: Wie können wir Nahrungsmittel
grosstechnisch so herstellen, dass sie einer haushaltsmässig zubereiteten
Mahlzeit gleichwertig sind – ohne faule Tricks? Das ist für unsere Gesundheit
ein viel wichtigeres Anliegen als die ewige Frage, was wir essen sollen.
Gibt es ein Produkt, vor dem Sie explizit warnen?
Ja. Ich warne vor allen Lebensmitteln, aus denen man etwas fürchterlich
Gefährliches herausgefischt und in die man etwas fürchterlich Gesundes
hineingewurstelt hat.