Schere zwischen arm und reich in Deutschland geht weiter auseinander

 

Berlin/Gütersloh (dpa) - In Berlin ist das Armutsrisiko so hoch wie nirgendwo sonst in Deutschland. Wer in Bayern und Baden-Württemberg lebt, ist dagegen am besten vor Armut geschützt.

 

Das ergab ein Bundesländer-Vergleich der Gütersloher Bertelsmann-Stiftung. Experten warnen, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland weiter auseinandergeht.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) berichtete in Berlin, schon heute habe mehr als jeder vierte Deutsche gar kein Vermögen oder sei verschuldet. Diese Armut werde durch Rentenansprüche etwas gedämpft. Im Schnitt verfüge jeder Erwachsene über ein Vermögen von über 150 000 Euro inklusive Rentenansprüchen.

 

Die Bertelsmann-Stiftung hatte das soziale Gefälle in den Ländern zwischen 2006 und 2008 bewertet. In Berlin waren von 1000 Einwohnern knapp 200 auf staatliche Hilfe angewiesen. In Bayern und Baden-Württemberg waren es im Schnitt nur etwas mehr als 50 Bürger. Im unteren Drittel liegen Sachsen-Anhalt, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern.

Den großen Unterschied zwischen Ost und West führt die Stiftung auf den höheren Anteil junger Alleinerziehender. Im Osten müssen 35 Prozent der Eltern unter 20 Jahren ihre Kinder ohne Partner aufziehen. In den westdeutschen Flächenländern schwankt der Anteil von 16,6 Prozent in Baden-Württemberg und 22,3 Prozent im Saarland.

 

Die DIW-Wissenschaftler haben nach den Angaben erstmals ausgerechnet, wie sich die Renten und Pensionen auf das Vermögen der Deutschen auswirken. Ein Erwachsener besitze neben Geld und Sachvermögen von 88 000 Euro im Durchschnitt rund 67 000 Euro an Pensions- und Rentenansprüchen. An der Spitze liegen Beamte. Im Pensionsalter verfügen sie laut Studie über ein Vermögen inklusive Altersvorsorge von über 500 000 Euro.

Gewarnt wird, dass mehr Menschen wegen Arbeitslosigkeit und reduzierter Sozialleistungen im Alter verarmen. "Zusätzliche private Altersvorsorge wird nach den Reformen bei der Alterssicherung immer wichtiger", sagte DIW-Experte Markus Grabka. Dafür hätten Geringverdiener aber meist kein Geld übrig.

Auch Langzeitarbeitslose könnten so gut wie kein Vermögen für das Alter aufbauen. "Dies gilt besonders für Ostdeutschland, denn hier haben wir ohnehin eine geringere Vermögensbildung als im Westen und deutlich mehr Langzeitarbeitslose."

 

 

 

Arm ist, wer keine Aufgabe hat

 

Im Kampf gegen Armut reicht es nicht, Hartz-IV-Sätze zu erhöhen. Die Menschen brauchen Arbeit. Davon ist genug da, wenn der Arbeitsbegriff neu definiert wird.

 
Ein Kommentar von T. Denkler

 

"Abgehängte Gebiete" sagt der Chef des Paritätischen Wohlfahrtverbandes, Ulrich Schneider. So nennt er einige Regionen im Osten Deutschlands. Abgehängt sind Regionen, in denen die Armutsquote bei bis zu 27 Prozent liegt, wie etwa in Mecklenburg-Vorpommern.

 

 

Solche Zonen der Tristesse weist der Armutsatlas für Regionen in Deutschland aus, den der paritätische Wohlfahrtsverband jetzt vorgestellt hat. Zum Vergleich: Im Schwarzwald liegt die Armutsquote nur bei 7,4 Prozent.

 

In den Regionen mit höchsten Armutsquoten leben viele Menschen von Hartz IV. Je nach Haushaltsführung mal recht, mal schlecht. Sie gelten als arm, weil die Statistiker eine Bezugsgröße brauchen. In der Europäischen Union ist das so geregelt: Die Menschen in einem Haushalt gelten als armutsgefährdet, wenn sie zusammen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte eines Landes zum Leben haben.

 

Aber reicht das, um Armut zu fassen? Wer ist eigentlich arm? Wer nichts zu essen hat? Wer seinen Kindern nur Secondhand-Kleidung kaufen kann? Wer sich einen Theaterbesuch sparen muss? Wer lieber in Zigaretten als in Bücher investiert? Wer lieber Playstation, Fernseher und DVD-Spieler im Kinderzimmer installiert, als den Nachwuchs zum Klavierunterreicht zu schicken?

 

Hartz IV ermöglicht sicher keinen üppigen Lebensstil, deckt aber immerhin die Grundbedürfnisse weitgehend ab. Viele sagen, das sei zu wenig, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Was immer das heißen mag: Würden alle Hartz-IV-Empfänger plötzlich ins Museum gehen, die Oper besuchen und an Lesungen teilnehmen, wenn sie mehr Geld bekämen?

Wohl nicht. Und das dürfte auch niemand verlangen. Was die Menschen mit ihrem Hartz-IV-Geld anfangen, muss ihnen überlassen bleiben. Schlimm genug, dass sie davon abhängig sind.

 

Das entscheidende Problem ist: Der urmenschliche Wunsch, mit eigener Hände Arbeit für sich und seine Familie sorgen zu können, kann in dieser Gesellschaft immer seltener befriedigt werden. Wenn es eine unabdingbare Form des gesellschaftlichen Teilhabens gibt, dann ist es die, Arbeit zu haben.

In vielen Regionen aber gibt es kaum noch bezahlte und noch seltener fair bezahlte Arbeit. Wenn kein Wunder geschieht, wird das auch so bleiben. Dabei gäbe es Arbeit genug.

 

Wenn Arbeit zu einem menschenwürdigen Dasein dazugehört, dann ist Hartz IV auf Dauer keine Lösung. Hartz IV schafft keine Arbeit, Hartz IV verwaltet Arbeitslosigkeit. Es ergibt keinen Sinn, die Menschen für einen Arbeitsmarkt fit zu machen, den es in manchen Regionen gar nicht gibt - oder wo sie Gehälter erwarten, die unter dem Hartz-IV-Regelsatz liegen.

 

Darum ist der Staat gefragt, Arbeit zu schaffen. Er muss dafür keine Unternehmen gründen. Er könnte einfach damit beginnen, ehrenamtliche Arbeit angemessen zu entlohnen.

 

Dahinter steckt die Idee, Arbeit nicht länger zwingend mit Erwerbsarbeit im klassischen Sinne gleichzusetzen. Arbeit kann auch bedeuten, Sterbenden auf dem Weg in den Tod die Hand zu halten, im Krankenhaus mit Patienten Karten zu spielen oder im Sportverein die Jugendabteilung zu managen. Alles wichtige, notwendige Aufgaben, die gleichwohl immer seltener wahrgenommen werden.

 

Statt Hartz-IV-Empfänger für einen Euro die Stunde in die Rabatten zu schicken, damit sie Unkraut jäten, könnten es solche Aufgaben sein, für die Menschen künftig vom Staat Geld bekommen. Das wäre eine Art Grundeinkommen für Ehrenämtler.

Nicht Almosen sind das, wie viele ihr Hartz-IV-Geld empfinden. Es wäre die gerechte Gegenleistung für ein wichtiges gesellschaftliches Engagement. Bedingung aber wäre, dass Armut in Deutschland nicht länger hauptsächlich als finanzielles Problem gesehen wird, das ist es schon lange nicht mehr.

 

Quelle: Süddeutsche Zeitung